Ich bin in so einer Gegend aufgewachsen. Hamburg Billstedt. Gastarbeiter, das war für mich kein Schimpfwort, sondern bedeutete ‚Nachbar‘. Diese Siedlungen, mit all ihrer Tristesse, für mich sind sie Heimat. Von dort komme ich. Auf der ewig langen Allee öffnet sich neben mir ein schmaler Durchgang. Ich schlüpfe hindurch und befinde mich inmitten kleiner Siedlungshäuschen. Vor einem steht ein Schäferhund am Tor. Immer weiter laufe ich in die Richtung, wo ich die Hochhausgebirge vermute. Irgendwie wollen meine Beine nicht. Es fällt mir richtig auf. Eigentlich bin ich ein guter Wanderer. 25 Kilometer mit Gepäck sind kein Problem für mich. Hier, ohne Gepäck, habe ich Blei in den Beinen. An einer Bushaltestelle warten Menschen. Ich stelle mich dazu, sehe verschiedene Hautfarben und höre mindestens drei Sprachen. Das passt so gar nicht zum Klischee von Marzahn.
Eine S-Bahn trägt mich in die Stadt. Warschauer Straße wechsle ich in die U-Bahn. Spontan und weil es so verheißungsvoll klingt, steige ich am Halleschen Tor aus und befinde mich wieder inmitten von Betonhäusern aus den 1970er Jahren. Wieder spüre ich, dass ich dazugehöre zu diesen Häusern und den Menschen, die sie bevölkern.
Mehringplatz. Die Friedrichstraße hat hier noch nichts Schillerndes. Ein Stadtteiltreff wirbt für Hausaufgabenhilfe, Deutschkurse und Kreativangebote. Ein paar Meter weiter gibt es eine Stichstraße. Sie führt an einem Schulhof vorbei, der hoch eingezäunt ist. Es klingelt, Kinder fluten lärmend über eine Betonbrücke auf den Hof. Ihre Stimmen rühren mich an. Ich fühle mich verbunden. Viele Mädchen tragen Kopftuch und Rock. Die Größeren passen auf die Kleinen auf.
Auf der Friedrichstraße zieht es mich zum Zentrum. Am Checkpoint Charlie wird es eng. Immer wieder bleibe ich stehen, um Schulklassen um mich herum fluten zu lassen. Ich bin unsichtbar. Alle schauen auf ihre Smartphones. Die Geschäfte werden teurer. Eine radebrechend Englisch sprechende Asiatin (Japanerin?) im Phantasie-Dirndl versucht Passanten in einen Pop up Store zu lotsen – mich nicht.
Unter den Linden fallen mir die vielen Baustellen auf. Beinahe überall sind die Fassaden eingehüllt. ‚So viel Geld‘ denke ich. Ich kenne die Straße noch von Besuchen in der DDR, ebenso den Alexanderplatz und den Palast der Republik, wo sich jetzt leuchtend die neue Fassade des Humboldtforums als Nachbau des Stadtschlosses erhebt. Ich staune und gleichzeitig bin ich abgestoßen von dem Reichtum, der hier verbaut wird.
Ich habe das Bedürfnis, in eine Kirche zu gehen und zwar in eine katholische, doch an der Hedwigskathedrale steht „wegen Umbau geschlossen“. Das ist in der Rückschau der Moment, wo ich es aufgebe zu suchen. Auf der anderen Straßenseite ‚Unter den Linden‘ befindet sich die Neue Wache. Dort, wo ich zu DDR-Zeiten noch die Ewige Flamme und Soldaten des Wachregiments ‚Friedrich Engels‘ bestaunt habe, finde ich meine Kirche. Im Innern steht die ‚Pieta‘. Eine vergrößerte Plastik von Käthe Kollwitz mit dem Titel „Mutter mit totem Sohn“. Die Bronzeplastik zeigt die Künstlerin, die ihren im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn Peter, als Erwachsenen dargestellt, schützend in ihrem Schoß birgt. Untrennbar getrennt. Mich ergreift die Plastik sehr.
Ich verstehe, dass dieses Ergriffensein etwas mit meiner eigenen Mutter zu tun hat. So, wie Käthe Kollwitz gleichzeitig liebend und trauernd die Hand ihres toten Peters hält, bin ich mit meiner Mutter verbunden. Die große Traurigkeit hält mich eine ganze Weile fest. Ich werde gnädigerweise nicht von Touristen bedrängt. Mir wird klar, dass ich in meinem Leben bislang nie Gelegenheit hatte, um meine Mutter zu trauern. Ich verstehe, dass ich etwas von ihr in mir trage. Mein rebellischer Geist, meine Kreativität, mein Drang, mit den Schwachen und Armen Gemeinschaft zu haben und gemeinsam Geborgenheit zu erleben, haben hier ihren Sitz. Und ganz klar kann mein Platz nicht an der Seite derer sein, die sich an die Macht und das Geld klammern.
Die Figur steht in der Mitte des Raumes. In der Decke ist ein Loch eingelassen. Die Trauernde Mutter mit Sohn ist dem Wetter ausgesetzt. Als evangelisch Aufgewachsener ist mir die Mutter Gottes als religiöse Instanz lange entzogen gewesen. Nun begegnet sie mir mit großer Intensität in Gestalt einer trauernden Mutter. Es erwischt mich geradezu von hinten. Unser westliches Gottesbild ist männlich. Aber Gott hat eben auch diese mütterliche Seite. Und dieses Bild nehme ich mit. Gott, die um ihre Kinder trauert und sie gleichzeitig trösten will. Gott an der Seite der Niedrigen. „Du stößt die Mächtigen vom Thron, den Hungrigen füllt er die Hand, die Reichen lässt er leer ausgehen“, heißt es im Lobgesang Mariens.
Als ich die Halle verlasse, drängt eine Gruppe Touristen hinein, als hätten sie für mich gewartet. Ich muss mich sammeln und folge vertrauten Pfaden. Auf dem Weg zum Alexanderplatz sehe ich einen Bettler mit zwei verschiedenen Schuhen. Ich gebe ihm mein Silbergeld, vier Euro. Die Kollekte des heutigen Gottesdienstes. Eine Weile danach fühle ich mich frei, ins Leben zu treten. Hunger, Durst und knappe Zeit holen mich in den Alltag zurück.
Später fällt mir wieder ein, dass ich am Alexanderplatz etwas gesehen habe, das bedeutend für mich ist. Dort steht ein entkerntes Hochhaus, das ‚Haus der Statistik‘ der DDR. Wenig überraschend handelt es sich um einen Plattenbau. Auf dem Dach des Gebäudes hat jemand einen Schriftzug angebracht: „Allesandersplatz“. Ich fahre noch einmal hin und mache ein Foto.
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