Als Gläubige sind wir nicht dazu berufen, Erreichtes zu zementieren und ebenfalls nicht, am Scheitern festzuhalten. Es geht vielmehr immer um den nächsten Schritt. Wenn wir uns auf das Geschehen einlassen, also auf das, was uns begegnet, umgibt oder widerfährt, dann folgt daraus immer eine Handlungsoption oder eine neue Möglichkeit.
Dabei geht es nicht um das Machbare. Was wir als machbar erachten, setzt uns bereits Grenzen – nämlich unsere eigenen. Und schon stecken wir wieder fest. Es kommt vielmehr darauf an, den nächsten Schritt zu wagen. So, wie Madeleine Delbrêl und andere es beschreiben, geht es um einen Tanz, dem wir uns unter Gottes Führung anvertrauen können. Und wie beim Tanzen ist es ganz normal, dass die Schritte erst nach und nach immer kühner werden. Tanzen erfordert Mut. Einen Weg zu gehen, der erst im Gehen entsteht, ist ein Abenteuer.
Philip Mountstephen, Leiter der „Church Mission Society“ in Großbritannien schreibt in dem Vorwort zu „Pioneering Spirituality“:
„Zu häufig karikieren wir „Spiritualität“ als nach innen gewandt, persönlich und statisch, während „Mission“ und „Pionier sein“ notwendig nach außen gerichtet, beziehungsorientiert und dynamisch zu sein haben. Spiritualität ist (aber) ausschreitend und hat mit Beziehung zu tun; Mission ist dagegen eine Sache für das reflektierende Herz.
Nur eine Pionier-Spiritualität treibt uns hinaus an die Orte, an die Gott seine ganze Kirche ruft: an die Ränder und an den unbekannten Platz/Ort der größten Bedürftigkeit.“ (Pioneering Spirituality, Cathy Ross und Jonny Baker, Canterbury Press, 2015)
In der Einleitung des Buches sprechen Cathy Ross und Jonny Baker von einer „Spiritualität der Straße“. Warum ist die so wichtig? Darauf gibt der Jesuit und Priester Christian Herwartz eine Antwort. Herwartz, der sich mit den Exerzitien auf der Straße einen ganz eigenen Weg innerhalb der jesuitischen Tradition bahnte, sagte in einem Interview (Publik Forum 24/2012): Wir verwurzeln uns ja so leicht in den Dingen, die wir gelernt haben und wo wir einen Nutzen haben. Und es passiert auf jeden Fall eine Entwurzelung, wenn ich anfange zu glauben.“
Christian Herwartz ist ein aussagekräftiger Zeuge. Er hat fast 40 Jahre in einer ziemlich offenen Wohngemeinschaft in Berlin gelebt, 2016 hat er sie verlassen, ohne zunächst zu wissen, wohin ihn der Weg führen würde.
Die Aussagen von Herwartz oder Mountstephen richten sich dabei keinesfalls gegen eine geordnete Struktur, aber sie geben einen deutlichen Hinweis darauf, dass sich der Weg, das Handeln der Gläubigen eben auch nach außen richtet, an die Ränder – wobei dies zunächst mal die eigenen Ränder sind. Und diese Entwurzelung, die Herwartz schildert, sie entspringt nicht dem eigenen Willen, sie ist Bestandteil oder Folge des Glaubens, oder besser gesagt, einer bestimmten Stufe oder eines Aggregatzustandes des Glaubens. Gott selbst ist es, der Menschen in Bewegung versetzt.
Biblische Bilder
Die Bibel ist voll von Berichten über einen Gott in Bewegung und Menschen, die von Gott durch ihren Glauben gerufen und in Bewegung gesetzt werden. Zwei Berichte möchte ich kurz beleuchten.
In der Apostelgeschichte (8, 26-40) wird berichtet, wie Philippus den Kämmerer der Äthiopischen Königin trifft und am Ende tauft. Hier fällt auf, dass Philippus zwar formal der Handelnde, aber im Grunde die ganze Zeit nur ausführende Person ist. Ein Engel fordert ihn auf, an die Straße in der einsamen Gegend zu gehen. Der Kämmerer erscheint. Der (Heilige) Geist fordert den Jünger auf, an den vorbeifahrenden Wagen zu treten. Nur kurz wird Philippus tätig. Er fragt den Reisenden, ob er versteht, was er liest. Der Reisende selbst fordert Philippus auf, es ihm zu erklären und schlägt am Ende selbst seine Taufe vor. „Da sagte der Kämmerer: Hier ist Wasser. Was steht meiner Taufe noch im Weg?“ Kaum ist die Taufe vollzogen, „entführt“ der „Geist des Herrn“ den Apostel.
Flüchtig und wirkungsvoll
Dieser Text ist auffällig so gestaltet, dass der Leser an dem Wundercharakter des Ereignisses nicht vorbeikommt. Philippus lässt sich leiten und rufen und gelangt so in eine wirklich bemerkenswerte Situation. Da liegt der Schwerpunkt des Textes. Der Apostel selbst hätte sich vorher nicht im Traum vorstellen können, dass er den Finanzminister der äthiopischen Königin taufen wird. So aber wird dieser sozusagen zum Begründer des christlichen Glaubens in dem afrikanischen Reich. Und kaum ist dies geschehen, wird Philippus vom Geist entführt und landet in einer anderen Stadt. Dem eben Getauften scheint er dabei gar nicht zu fehlen, der zieht froh seiner Wege.
Hier wird ein äußerst flüchtiger Moment mit einer weitreichenden Wirkung beschrieben, in dem die Personen keine Bedeutung, Macht oder Ruhm erlangen. Die Gemeinschaft ist nur auf Zeit angelegt. Man darf aber davon ausgehen, dass sie für beide Protagonisten bedeutend bleibt.
Der Buch Jona bietet tiefe Einblicke in das, was Berufung bedeuten kann und wie Gottes Handeln im Zusammenhang der Berufung wahrgenommen werden kann, nämlich in zwei Richtungen. Der Ruf Gottes ereilt den Jona, dieser gilt aber in seiner Wirkungsabsicht nicht (allein) Jona, sondern der Stadt Ninive, die stellvertretend als Typus der gottfeindlichen Stadt erscheint.
Jona weicht dem Ruf zunächst aus, er flieht. Eine zutiefst menschliche Regung. Doch Gott lässt nicht locker, was noch einmal den Berufungscharakter unterstreicht. Jona flieht und es ergeht ihm schlecht. Erst, als er sich selbst bekehrt, im Bauch des Fisches sein (wunderschönes) Bußgebet spricht, spuckt der Fisch den ‚Propheten wider Willen‘ an Land.
Zum zweiten Mal erreicht Jona, der nun selbst die Erfahrung der Erlösung und Errettung gemacht hat, der Ruf des Herrn, nach Ninive zu gehen. Jona geht und verkündet der Stadt, dass ihr das Strafgericht droht. Und tatsächlich, die Leute hören auf ihn und kehren um: „er sah, dass sie umkehrten und sich von ihren bösen Taten abwandten … Da reute Gott das Unheil, das er ihnen angedroht hatte und er führte die Drohung nicht aus“ (3,10 Einheitsübersetzung). Aber was tut der frisch erlöste Jona? Statt sich zu freuen, wird er zornig.
Am Beginn des 3. Kapitels heißt es, dass Ninive eine große Stadt war. Man brauchte drei Tage, sie zu durchqueren. Jona tauchte immer tiefer in die Stadt ein und predigte. Nun geht Jona den umgekehrten Weg. Jona hat seine eigene Errettung schon ganz vergessen. Er hadert mit Gott, weil er die Stadt nicht zerstört und bestraft. Jona wird richtig zornig, so dass Gott ihn sogar fragt, „ist es recht, dass du zornig bist?“
Neben den zutiefst menschlichen Reflexen, die hier beschrieben werden, ist mir ein Aspekt in diesem Zusammenhang wichtig geworden: In 4,5 heißt es „Da verließ Jona die Stadt und setzt sich östlich vor der Stadt nieder.“ Gott hat Jona aufgefordert, in die Stadt hinein zu gehen. Den Entschluss, sie zu verlassen, fasste Jona hingegen selbst.
Die Stadt mit ihrem Leben
Mir scheint dies ein gutes Bild für die Probleme zu sein, um die es heute in den Kirchen viel Händeringen gibt. Kirche mit ihren Sonderorten und Sondermenschen ist immer in der Gefahr, die Stadt innerlich zu verlassen. Da ist die böse Säkularisation mit ihrer Postmoderne und die Welt mit ihrem Konsum und Lärm schnell auf der anderen Seite. Groß ist die Versuchung, sich mit sich selbst zu beschäftigen und abzuwenden.
Die Erzählung über den festgerannten Jona steckt voller Humor. Gott lässt den Jona scheinbar nicht in Ruhe. Als er da vor der Stadt sitzt, um zu sehen, was mit ihr geschieht, lässt Gott sogar einen Rizinusstrauch über den schmollenden Jona wachsen, um ihm Schatten zu geben. Dann aber schickt er einen Wurm, nach dem Jona sich immer noch nicht rührt und zurückgeht, der Strauch stirbt. Unterdessen hat sich Jona in eine richtige Depression hineinziehen lassen: „Es ist besser für mich zu sterben als zu leben.“ Der Theologe und Autor Christian Lehnert (Der Gott in einer Nuss) beschreibt das als „ekklesiologische Depressivität“.
Gott lässt den Jona ein letzten Mal nicht in Ruhe, der da im heißen Ostwind sitzt und sich grämt, weil die Welt ist, wie sie ist. Hier lässt sich eine Parallele zu Teilen der Diskussion in unseren Kirchen finden. Es gibt eine Bewegung, die auf Richtigkeiten beharrt und dafür lebendige Prozesse infrage stellt und sich lieber verweigert, statt sich zu öffnen.
Es geht Gott aber eben nicht nur um Jona oder um die verfasste Kirche. Es geht ihm um die Welt, die ist, wie sie nunmal ist. Er hat sie schließlich geschaffen. Und so endet das Jona Buch inhaltlich dort, wo Gott seinen Propheten hinhaben wollte (und uns als seine Kirche hinhaben will), in der Stadt mit ihrem Leben:
„Dir ist es leid um den Rizinusstrauch, für den du nicht gearbeitet und den du nicht großgezogen hast. Über Nacht war er da, über Nacht ist er eingegangen. Mir aber soll es nicht leid sein um Ninive, die große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die nicht einmal rechts und links unterscheiden können – und außerdem so viel Vieh.“
Was tun?
Der Weg führt „in die Stadt“, also zu den Menschen (und zu den Tieren auch!), hinein in „die Welt, wie sie ist“ und heraus aus der Sonderwelt. Was aber ist dort die konkrete Aufgabe der Gläubigen? Darauf findet sich eine mögliche Antwort bei Madeleine Delbrêl. Demnach besteht die Aufgabe der Gläubigen (unter anderem) darin, durchlässig zu werden für Gottes Handeln:
Christen und Christinnen sind in der Welt wie ‚elektrische Leitungen‘ für etwas, was die Welt weder in sich trägt, noch aus sich selbst hervorbringen kann. Je mehr sie für die Welt ‚geladen‘ sind, desto mehr sind sie für die Welt bestimmt. Ihr normales Kreuz besteht in der Hochspannung zwischen ihrer engen Zugehörigkeit zur Welt und ihrer Aufgabe, die sie zwar mitten in der Welt ausführen, aber darin der Welt auch fremd sind.
Ein schönes Bild aus dem neuen Testament, vielleicht ein Gegenentwurf zu Jona, ist die Geschichte von Paulus, der durch Athen streift. Dabei findet Paulus einen Tempel für den ‚Unbekannten Gott‘. Und er trifft dabei auf Menschen, die neugierig sind. Beides lässt sich auch heute noch auf den Straßen finden.
Text und Foto: Dirk Kähler