In der Großstadt treffen Gegensätze immer aufeinander. Arm und wohnungslos trifft auf wohlhabend und wohnend. Meistens geschieht dies auf der Straße.
Der Verein Straßenblues hatte im Sommer 2017 eine sehr kleine, aber großartige Fotoausstellung organisiert. Die Bilder hingen auf sehr nackten und grauen Betonwänden im Foyer des Kreditkartenunternehmens Barcleycard in Hamburg, das die Ausstellung ermöglichte. So kam es, dass Menschen im Businessdress auf dem Weg zur Raucherpause oder zur Arbeit an den Bildern vorbeigingen.
Würdevoll und künstlerisch porträtiert hingen Portraits von wohnungslosen Menschen neben Texten, die ihre Erfahrungen wiedergeben und Fotos, die von ihnen selbst mit Einwegkameras gemacht wurden. „Straßensilvester“ lautete der Titel der Ausstellung, die den Blick der Wohnungslosen wiedergab. Es waren berührende und oft überraschende Selbstzeugnisse von Menschen, denen aufgrund ihrer sozialen Lage viel zu wenig Gehör geschenkt wird.
Nikolas Migut hat zugehört und zugesehen. Und es hat ihn nach eigener Aussage auch nicht mehr losgelassen. In sehr nahe gehenden Filmen hat Nikolas Migut dem Thema Obdachlosigkeit viel Arbeit gewidmet. Sein Beitrag „Unter Pennern“ in der Reihe 7 Tage zeigt auch Alex. Ein Schlüsselerlebnis, wie Migut auf der Internetseite von Straßenblues erzählt.
An den Berichten der einzelnen Erzähler, die neben den Fotos zu lesen waren, sind mir zwei Sachen besonders eindrücklich ins Auge gefallen. Da sind die Brüche: kein Kontakt zu Eltern, Geschwistern, Kindern. Sind sie Folge oder Voraussetzung für den Weg auf die Straße? Und durchgängig ist das Thema Gewalt. Irgendwann geschlagen worden zu sein oder psychische Gewalt erfahren zu haben – oder beides, ist ganz offensichtlich eine Eintrittskarte in das Leben ganz unten.
Durch die Decke denken
Die Texte enthalten Wünsche. Silvester ist ja der Tag des Wünschens. Es sind kleine Wünsche, die dort geäußert werden. Ein normales Leben, Frieden, ein Tag im Hamam, ein Fahrrad, bei dem die Gangschaltung funktioniert. Eine eigene Wohnung findet sich hingegen kaum unter den Wünschen, die in der Ausstellung formuliert wurden.
Auf den ersten Blick mag das seltsam erscheinen, aber ist es nicht so, dass man das nicht mehr denken kann, wenn man so viel erlebt hat.
Die Berichte des Elends sind lang. Oft sind die Betroffenen arglos hineingestolpert. Vertrauen, das missbraucht wird und in die Katastrophe führt, statt belohnt zu werden. Wer das mit sich herumträgt, kann vielleicht nicht mehr durch die Decke denken, wenn eine Decke das einzige Zuhause ist. Und wer könnte das überhaupt, wenn ich oder Du spontan gefragt werden, was wir uns wünschen, wer könnte das Richtige sagen und groß denken, wenn der Engel oder die Fee vor uns steht. Und was ist das, das Richtige?
Text und Fotos: Dirk Kähler