Hände am Rande der Kleinstadt

Gottesdienst in einer kleinen Gemeinde am Rande einer kleinen ostfriesischen Kleinstadt. Das bedeutet ohnehin, dass nicht so richtig viele kommen. An einem Sommersonntag 2017 ist es auch so. Dazu sind Ferien, da kommen noch einmal weniger. „Seien sie nicht enttäuscht“, sagt die Pastorin, für die ich den Platz an diesem Tag einnehme.

Und dann gesellt sich unerwartet zu den vielleicht zehn Menschen, die gekommen sind, noch eine Familie, die nach der Beisetzung eines Verwandten unter der Woche noch der Einladung in den Sonntagsgottesdienst gefolgt ist. Die Truppe sieht nach dem aus, was man in Ostfriesland „Ländies“ nennt. Leute vom Land eben. Keine reichen Bauern, sondern Familien, die auf Landarbeiter zurückgehen – oder heute noch sind.

Bei der Begrüßung am Eingang schüttele ich allen nacheinander die Hand. Die älteren Frauen haben sich fein gemacht. Es ist schlichte Kleidung. Eine Brosche sieht aus, als sei sie das Hochzeitsgeschenk aus den 1960er Jahren. Ein Mann, vielleicht 45 Jahre alt, kommt in Jeans und schwarzem T-Shirt. Er hat Hände, groß wie Klodeckel! Einer der Alten reicht mir seine Hand, sie ist kühl und rau und hat das Arbeiten noch nicht verlernt, obwohl der kleine Finger schon gar nicht mehr gerade geht.

Noch gibt es die Alten, die diese Geschichten erzählen können, wie es war, in den 50er Jahren. Als Mägde und Knechte auf den Höfen noch in Naturalien bezahlt wurden. Als die eigenen Tiere der Landarbeiter, viele waren es nicht, am Straßenrand und den Feldrainen geweidet werden mussten und das nach Feierabend eines ohnehin langen Arbeitstages.

Die Truppe kommt sonst nicht in diese Kirche. Nie. Es ist ohnehin ein Zufall, dass sie zum Bezirk dieser Gemeinde gehört, die einstmals mitten in ein Neubaugebiet gepflanzt wurde, als man das noch so machte.

Und so sitzen sie vorne, in zwei Reihen. Dahinter verteilen sich die wenigen Gemeindemitglieder und ein Konfirmand. Der Gesang ist dünn. Es ist eine brüchige Szene von eigenartiger Schönheit. Die Trauergemeinde durchbricht den gewohnten Gang. Sie ist viel größer, als der versammelte Rest. Sie steht dadurch auf eine seltsame Art im Mittelpunkt. Ich frage mich, warum sie gekommen sind. Weil sie eingeladen wurden, das ist klar, aber was suchen sie genau?

Wir feiern Abendmahl. Alle kommen in den Altarraum. Nur die Organistin bleibt auf ihrem Platz und der Konfirmand. Ich schicke ihm ein Lächeln. Er lächelt zurück. Beim Austeilen sagen die Angehörigen der Trauerfamilie fast alle „danke“. Das Brot des Lebens für dich. Danke. Der Kelch des Heils für dich. Danke.

Und dann sind sie wieder da, die Hände, die so viel getan haben. Mehr, als ich mir je vorstellen könnte, selbst zu tun. Unzählige Male den Spaten in den Boden des Gartens hinter dem kleinen Landarbeiterhäuschen gestochen. Unzählige Male den schweren Marschboden umgedreht, in immer wiederkehrender Bewegung.

In immer wiederkehrender Bewegung gehe ich von einer zum anderen. Das Brot des Lebens für Dich. Danke. Ich lege die Hostie, das Brot in die Hand mit dem eingekrümmten Finger. Die andere Hand hält eine Mütze fest, einen nicht mehr ganz neuen Elbsegler. Schwer fällt der Boden vom Spaten wieder zurück auf die Erde und macht ein dumpfes Geräusch. Man kann den Aufprall in den Sohlen der Schuhe spüren. Brot des Lebens. Im Schweiße deines Angesichts. Danke.

Was bleibt? Ich frage mich. Werden sie wiederkommen? Was nehmen sie mit? Ich habe das alles nicht in der Hand. Spüre aber bis heute, dass hier etwas in der Luft liegt, jedenfalls für mich. Hier hätte etwas von Gemeinde beginnen können. Aber es gab noch nicht einmal Kaffee hinterher. Den gibt es hier nie.

Als ich 20 Minuten später die Kirche verlasse, steht die Trauerfamilie an der Bushaltestelle. Ich gucke auf den Parkplatz. Keine Autos. Sie müssen tatsächlich mit dem Bus gekommen sein. Wer das Land kennt, weiß, was es bedeutet. Ich winke. Sie winken.

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