Die Burchardi-Kirche: 800 Jahre Kloster und Kirche. 170 Jahre Stall. 10 Jahre Ruine. Überall herum Vergangenes. Vergangenes jüdisches Leben. Vergehendes kirchliches Leben. Es stehen riesige Kirchen in dieser Stadt mit ihren 40.000 Einwohnern.
Ein örtlicher Pastor berichtete uns in diesen Tagen aus diesem Alltag. Hart und nichts beschönigend seine Sätze: „Man müsste sich mal ehrlich machen. Die SED hat die Wirklichkeit auch schön geredet.“ „Unsere Kirche ist eine sterbende Kirche.“
„Wenn zehn ältere Damen zum Gottesdienst kommen, dann macht es was mit einem.“ „Ich habe keine Gemeinde. Ich fühle mich einsam. Ein Ort, an dem ich aufgehoben bin, der fehlt mir.“
„Es ist Sterbebegleitung. In diesem Sinne versuche ich meine Arbeit zu deuten.“„Am Anfang dachte ich noch, bei den Beerdigungen, da brauchen mich die Menschen. Aber ich mache kaum noch welche.“
Osterlachen und Verblüffung
Und nun das. Vor der Tür der 1.000 Jahre alten Mauern der Burchardi-Kirche tritt ein Mann der Gruppe entgegen. Er hat auf uns gewartet. In seiner Hand die Partitur des Orgelwerks „Organ2/ASLSP“ von John Cage. Aus der geöffneten Tür können wir den Dauerton der Orgel hören, die seit 2013 hier klingt. „As slow as possible“ hatte John Cage seiner Komposition vorangestellt. „So langsam wie möglich zu spielen.“ Der Mann, der uns begrüßt, öffnet das Notenheft und zeigt auf die Stelle, die gerade ertönt. Der Finger weist auf einen Punkt ganz am Beginn des Stückes im zweiten Takt. Alle müssen lachen.
Das „Cage-Projekt“ in Halberstadt ist facettenreich und viel zu komplex, um es hier abzuhandeln (das kann das verlinkte Video der Arte-Mediathek). Aber das Ergebnis ist so verblüffend. Wir lachen, weil wir verblüfft sind. Und weil es ja auch wirklich lustig ist. Immerhin beginnt das Stück mit einer zwei Jahre langen Pause. Ich glaube, wer über das Projekt lacht, hat es wirklich verstanden. Es ist ein Osterlachen. Ein Auferstehungslachen. Und die Menschen, die das Projekt umsetzen, haben die Idee noch gesteigert. Als es im Jahr 2000 startete, war es 639 Jahre her, dass in Halberstadt die erste Großorgel der Welt mit einem 12-Tasten-Manual im Dom erklang. So wurde festgelegt, dass „As slow as possible“ auch 639 Jahre dauern soll.
Die Burchardi-Kirche am Rande der Stadt war so tot, wie eine Kirche nur tot sein kann. Dass sie am Ende als Schweinestall genutzt wurde, ist eine absurde Steigerung des Umstands, dass sie 1810 nach Kriegen und mehreren Überflutungen endgültig entweiht wurde. Und jetzt steht wieder eine Orgel in der Kirche und sie klingt.
Und das tut sie, weil John Cage, ein ungewöhnlicher Geist, der durch und durch Künstler war, Menschen inspiriert hat. Ein ganz besonderer Geist hat das Stück nach Halberstadt geführt. Nicht nach New York, nicht nach London oder Paris. Halberstadt, das Bethlehem unter den Städten. Dieser Geist hat Menschen angesteckt und inspiriert, die wiederum eigene Ideen und eigenen Geist beigesteuert haben.
In der Kirche steht also eine Orgel mit wenigen Pfeifen. Der weitgehend schmucklose Raum ist von ihrem dauernden Klang erfüllt. 24 Stunden, Tag für Tag ist er zu hören. Ob jemand da ist oder nicht. Manchmal sind nur wenige Menschen in der Kirche. An ganz wenigen Tagen ist sie voll. Für den 5. September 2020 ist der nächste Klangwechsel vorgesehen. Es werden 150 Karten verkauft. Einzelpreis ab 200 Euro als Spende.
Die Wände werden von Tafeln geziert. Menschen, die ein ‚Klangjahr‘ mitfinanziert haben, können dort etwas hinterlassen. Für das Jahr 2474 haben Annegret und Ernst-Georg M. dort eine Gedenktafel für ihren 500. Hochzeitstag anbringen lassen. Die Inschrift lautet: „Die Liebe höret nimmer auf.“ Ein Zitat aus dem 1. Korintherbrief (13,8, Textvariante: Luther 1912). So hat also auch die Bibel wieder den Weg in diese Kirche gefunden. Und mit den vielen Tafeln haben die Auseinandersetzung mit Tod und Ewigkeit wieder ihren dauerhaften Platz in dem ehemaligen Zisterzienserkloster.
Als wir den Ort verlassen, bin ich erfüllt. So wie die Kirche erfüllt ist von Kreativität und gutem Geist. Da haben sich Menschen auf den Weg gemacht, sind diesem guten Geist gefolgt, haben sich leiten lassen, haben Kunst gewagt und am Ende steht eine auferstandene Kirche, die ein Stall war. Und zwar nicht, weil diese Menschen unbedingt „irgendwas mit Kirche“ machen wollten. Es ist einfach so gekommen. Gott erscheint im Stall und eine dem Abbruch geweihte Kirche bekommt für 639 Jahre wieder einen Sinn. Weihnachten in Halberstadt, mit Orgelmusik von John Cage.
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