Augenblick und Gegenwart

Mitten im Hamburger Schanzenviertel steht seit 1970 das Jesus Center. Zum Schulterblatt hin öffnet das Café Augenblicke seine Türen. Dort haben wir es immer wieder mit Menschen zu tun, die schwere Lasten mit sich herumtragen. Neben heißen Getränken, Lebensmitteln und sehr günstigem (1,50 Euro) und an manchen Tagen kostenlosem Mittagessen ist das Zuhören vielleicht das wichtigste Angebot, das wir unseren Gästen machen können.

Vor einigen Tagen hat mich K. dabei gelehrt, was Vergebung bedeutet. Er ist Anfang 50 und lebt mal wieder auf der Straße.

K. ist noch nicht so lange Gast bei uns. Gerne sitzt er allein an einem der kleinen Tische. Manchmal macht er dort ein Schläfchen. Das ist bei uns ein normaler Anblick und wird von allen respektiert.

Wenn es passt, setze ich mich gern zu den Gästen. Oft ergeben sich Gespräche und dabei kommen auch manche Sorgen, Nöte und Probleme auf den Tisch.

Bei K. war es neulich eine Art Beichte. Ich weiß jetzt eine Menge über ihn. Dass er Kinder hatte (die Vergangenheitsform wird oft gewählt), dass sie am Zaun auf ihn warteten, wenn er nach Hause kam. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, als das Bild in ihm hochsteigt; seine Augen blitzen und ich ahne, dass viel Liebe in K. steckt und dass seine Kinder das auch gemerkt haben müssen.

Über den Bruch wird nicht gesprochen. Ich höre ohnehin nur zu. Jedenfalls, der Alkohol war schuld. Die Kinder müssen schon groß sein.

In den Jahren hat K. eine Odyssee mit verschiedenen Stationen hinter sich gebracht. Arbeit auf dem Bau, Wohnen in einem Bretterverschlag, Platte, Knast, Zirkus. „Aber da gab es hier nichts“, K. reibt Daumen und Zeigefinger aneinander.

In den Knast kam er, als er im ICE beim Schwarzfahren erwischt wurde. Er war betrunken. Die Schaffnerin hat getobt. Beim Erzählen kann K. sich ein Lachen nicht verkneifen. Erster Klasse nach irgendwohin. Schließlich war es ein kalter Winter.

Alkohol ist immer wieder Thema. Das Trinken gehört zur Obdachlosigkeit fast zwingend dazu. Alkohol löst die Angst. Alkohol hilft, wenigstens ein bisschen zu schlafen. „Aber keine harten Sachen mehr“, sagt K.

Die Balance ist nur schwer zu halten. Immer mal wieder kippt ‚es‘ und das bleibt nicht ohne Folgen. Dann ist mal wieder alles weg. Schlafsack. Rucksack. Alles. Geklaut, verloren, weiß keiner.

Irgendwo erwacht dann ein Obdachloser wie K. und steht noch mehr vor dem Nichts als tags zuvor.

Einmal, wohl noch nicht lange her, gab es von einer anderen Hilfeeinrichtung Geld für einen neuen Personalausweis. Leider hat es den Weg zum Amt nicht gefunden.

Als K. davon berichtet, braucht er sich das Lachen nicht zu verkneifen. K. ist ganz bei sich. Eigentlich will er das nicht. Eigentlich will er Kontrolle. Was aus solchen Ausrutschern folgt, nimmt K. mit einer Demut hin, die ich schwer fassen kann. Er trägt es vielleicht wie eine Strafe. Eine dicke Schicht Papier, die von einer Plakatwand herunter hing, diente in der Nacht als Bett. Papier isoliert ganz gut. Ohne Papiere gibt es keinen Weg zurück in das Leben mit vier Wänden. Aber den Wunsch hält K. fest.

Ein Funke

Es sind diese kleinen Augenblicke, die deutlich machen, da ist ein Funke. Da will etwas ins Leben. Meine Aufgabe besteht einzig darin, zuzuhören. Gegenwärtig zu sein. Nicht zu urteilen. Keinen Ratschlag zu geben, wenn ich nicht gefragt werde. Und dann kann ein kleiner Schritt geschehen.

Jetzt kann K. ohne Scham sagen, dass er es schaffen will. Die ‚Leute‘ sollen nicht recht behalten, die gesagt haben, „der ist genau wie sein Alter“, der am Suff gestorben ist.

Ich nicht“, sagt K. Und ich glaube ihm. Und ich glaube für ihn. Und ich hoffe mit ihm. Und ich sitze bei ihm. So sind wir an diesem Tag zusammengerückt. Etwas Unhinterfragtes, Verlässliches und gleichzeitig Zerbrechliches ist zwischen uns entstanden. In den folgenden Tagen und Wochen ist es deutlich zu spüren.

Der Alkohol ist natürlich trotzdem da. Ausrutscher werden wohl auch weiterhin eine Gefahr sein, aber ein Weg ist sichtbar geworden. Wegen dieser Augenblicke ist das ‚Café Augenblicke‘ so ein großer Schatz. Es ermöglicht Menschen, zu einem regelmäßigen Leben zurückzukehren.

Jeden Tag besoffen ist natürlich auch ein geregelter Alltag. Jeden Tag im Jesus Center ist ein erster Schritt in ein anderes Leben.

Genau darum ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir jede Besucherin und jeden Gast mit dem willkommen heißen, was an ihr und an ihm wertvoll ist. Es gibt in jedem Menschen diesen Funken, die Sehnsucht, die (wieder) ins Leben will. Dieser Funke kann nur entfacht werden, wenn kein Urteil lauert.
Im Johannesevangelium heißt es, dass Jesus eine Jünger mit der Kraft ausstattete,
Sünden zu vergeben. Aber eben nicht in einem Akt großmütiger Gnade oder gar als Mittel zu einer wie auch immer gearteten ‚Bekehrung‘, sondern auf Augenhöhe, im Augenblick und in großer Demut den Menschen gegenüber, die sich mir öffnen und mich lehren, was Vergebung bedeutet.

Bitte um Unterstützung

Das Jesus Center ist (man kann es nicht verbergen) eine Einrichtung, die als einen Grundpfeiler den christlichen Glauben hat. Aber ganz bewusst stellen wir die Menschen in den Mittelpunkt. Die Arbeit wird zu ganz wesentlichen Teilen aus Spenden finanziert, denn das Jesus Center ist eine eigenständige und unabhängige Institution. Man könnte auch frei dazu sagen. (Teile der Arbeit im Jugendbereich werden durch das Jugendamt der Stadt Hamburg getragen.)

Das Café Augenblicke ist ein wichtiger Ort in meinem Leben geworden. Mir liegt sehr am Herzen, was wir da tun. Wenn Sie unsere Arbeit unterstützen mögen, dann würde ich mich außerordentlich freuen.

JesusCenter e.V.
Spar- und Kreditbank Bad Homburg
IBAN: DE55 5009 2100 0000 5858 58
Verwendungszweck:
Café Augenblicke – Stichwort: Kirche der Strasse

Internet: www.jesuscenter.de

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